Unter der Mitarbeit der Österreichischen Dystonie und Botulinumtoxin-Anwendergruppe (ÖDBAG)
Österreichischen Parkinsongesellschaft (ÖPG)
Österreichischen Gesellschaft für Neurorehabilitation (OeGNR)

Einleitung

Ein fokales spastisches Syndrom kann sich im Rahmen unterschiedlicher neurologischer Erkrankungen, wie zum Beispiel nach einem Schlaganfall, einer Multiplen Sklerose oder einem Schädel Hirn Trauma entwickeln. In allen Fällen liegt eine Schädigung des ersten Motoneurons vor, die zu einer Fülle von Symptomen wie Schmerz, Muskelverhärtung und enthemmten Reflexmustern führen kann. Dadurch werden häufig Aktivitäten des täglichen Lebens, Handfunktion und Geschicklichkeit sowie Fortbewegung negativ beeinflusst.

 

Bisherige Therapiemöglichkeiten

Neben Allgemeinmaßnahmen stellt die Physiotherapie die wichtigste Maßnahme sowohl zur Vermeidung als auch zur Behandlung der Spastik dar. Insbesondere zur Behandlung generalisierter spastischer Syndrome stehen Medikamente zur Verfügung, die oral oder intrathekal verabreicht werden können. Aufgrund einer gleichzeitig auftretenden Muskelschwäche in benachbarten Muskeln und sedierender Effekte ist der Einsatz nur begrenzt möglich. In der Behandlung der fokalen Spastik stehen zusätzlich lokale Infiltrationsverfahren zur Verfügung. Die Injektion von Lokalanästhetika dient nur zu diagnostischen Zwecken, da die Wirkung nur über wenige Stunden anhält. Die Injektion von Phenol in den, den spastischen Muskel, versorgenden Nerven wird aufgrund von bleibenden Nebenwirkungen (chronische Dysästhesien) heute als obsolet erachtet. Lediglich bei großen und stark spastischen Muskeln können Phenol-Injektionen in die Endplattenregion in Erwägung gezogen werden. Da Phenol eine bleibende Schädigung im Muskel verursacht, sollten nur funktionslose Extremitäten mit Phenol behandelt werden.

 

Botulinumtoxin in der Spastikbehandlung

Botulinumtoxin ist ein Neurotoxin und wird von dem Bakterium Clostridium botulinum produziert. Das Toxin hemmt dosisabhängig die Freisetzung von Acetylcholin an den neuromuskulären Endplatten und verhindert damit eine Muskelkontraktion. Bei fokalen Dystonien und dem hemifazialen Spasmus stellt die lokale intramuskuläre Injektionsbehandlung mit Botulinumtoxin bereits seit einigen Jahren die Therapie der ersten Wahl dar. In der Spastikbehandlung wird Botulinumtoxin seit mehr als 10 Jahren erfolgreich eingesetzt. Es liegen placebokontrollierte und randomisierte Studien zur Behandlung fokaler spastischer Syndrome der oberen als auch der unteren Extremitäten vor. Ein Übersicht über die wesentliche Literatur gibt der 2001 von der Österreichischen Dystonie und Botulinumtoxin Anwendergruppe (ÖDBAG)  herausgegebene Supplementband der Wiener Klinischen Wochenschrift „Die Botulinumtoxinbehandlung – State of the art 2000“. Die klinische Wirkung hält üblicherweise drei bis fünf Monate an, danach sind Wiederholungsbehandlungen erforderlich.

Die Entscheidung zur Anwendung von Botulinumtoxin in der Behandlung der fokalen Spastik sollte im interdisziplinären Neurorehabilitations-Team getroffen werden (Tabelle 1). Eine entsprechende Patientenselektion verbessert die Behandlungsergebnisse und grenzt die Gruppe der Patienten ein. Insbesondere sollten nur wenige Muskeln an dem fokalen spastischen Syndrom beteiligt sein. Wenn Kontrakturen bestehen, sollte es sich um dynamische Kontrakturen handeln, welche zumindest passiv aufdehnbar sind.

 

Therapieziele

Vor Behandlung ist im Rahmen eines ausführlichen Gesprächs auf Patientenziele und -erwartungen einzugehen, um falsche / zu hohe Erwartungen und daraus resultierende Mißerfolge zu vermeiden. Therapieziele sollen in jedem Fall mit dem Patienten, den Pflegepersonen und den Therapeuten festgelegt werden. Mögliche Therapieziele sind in Tabelle 2 aufgelistet.

Arten der fokalen Spastik bei denen der Einsatz von Botulinumtoxin überlegt werden kann

Im Bereich der oberen Extremität kann der Einsatz von Botulinumtoxin bei folgenden Störungsmustern erwogen werden: (a) adduzierte, innenrotierte Schulter, (b) flektierter Ellbogen, (c) pronierter Unterarm, (d) flektiertes Handgelenk, (e) spastischer Faustschluß

Im Bereich der unteren Extremität kann Botulinumtoxin bei folgenden Mustern überlegt werden: (a) Hüftbeugerspastik, (b)  Adduktorenspastik, (c) flektiertes Kniegelenk, (d) Spitzfuß, (e) Spastisches Zehenkrallen.

Grundvoraussetzungen um eine Behandlung mit Botulinumtoxin durchführen zu können

Der Arzt, der Botulinumtoxin in der Indikation „fokale Spastik“ anwendet, sollte über eine Reihe von Grundkenntnissen verfügen, die in Tabelle 3 aufgelistet sind. Genaue anatomische Grundlagen zum Verständnis spezieller Gelenksfunktionen sind erforderlich um die Behandlung gut planen zu können. Sowohl Spastik als auch Schwäche können zu einer Gelenkdeformierung führen und müssen richtig erkannt werden. Eine genaue Anamnese, Überprüfung der Funktion und eine genaue Palpation helfen die betroffenen Muskeln heraus zu finden.

 

Dokumentation

Abgesehen von der ärztlichen Dokumentationspflicht erfordert eine optimale Spastikbehandlung ein Mindestmaß an Dokumentation. Erfasst werden sollten: (a) Muskeltonus (Ashworth-Skala), (b) Aktives und passives Bewegungsausmaß in den benachbarten Gelenken der injizierten Muskeln (c) Schmerzintensität, (d) Funktion, (e) Therapieziel, (f) Anzahl und Dosis der injizierten Muskeln, (g) Nebenwirkungen.

Injektionstechnik

Die Rekonstituierung von BtxA erfolgt unmittelbar vor Anwendung mit physiologischer Kochsalzlösung. Üblicherweise werden Verdünnungen zwischen 1 und 4 ml pro Ampulle verwendet.

Ein Lokalanästhetikum ist bei der Behandlung von Erwachsenen nicht erforderlich. Nach Hautdesinfektion soll das beabsichtigte Volumen langsam ohne hohen Druck an 1 bis 3 Punkten pro Muskel injiziert werden.

Bei oberflächlich gelegenen bzw. gut tastbaren Muskeln ist eine anatomische Lokalisation ohne EMG oder Stimulationskontrolle ausreichend. Die Bestätigung der Nadellokalisation erfolgt durch passive Bewegungen im injizierten Muskeln. Bei tiefer gelegenen Muskeln (z.B.: Unterarm), insbesondere bei drohendem Funktionsverlust soll die Injektion nur unter gleichzeitiger EMG-Kontrolle erfolgen. Zusätzlich kann die Lage der Injektionsnadel durch eine gleichzeitige Stimulation überprüft werden. Zum Ausschluß einer Gefäßpunktion wird vor Injektion eine Aspiration empfohlen.

 

Dosierungen

Dosierungen müssen immer individuell bestimmt werden und sind von der Größe des Muskels, dem Ausmaß der Spastik, der Restfunktion und anderen Faktoren abhängig. Einen Überblick über häufige Dosierungen gibt Tabelle 4 im Anhang.

 

Maximaldosen

Derzeit sollten bei einer Behandlung Gesamtdosen von 400 mu BotoxÒ bzw 1500Ò Dysport nicht überschritten werden. Obwohl die therapeutische Breite des Medikaments wesentlich höher liegt und bei einem Großteil aller Patienten auch bei höhern Dosen nicht mit systemischen Nebenwirkungen zu rechen ist, steigt jedoch das Risiko einer unerwünschten Antikörperbildung gegen Botulinumtoxin.

 

Behandlungsabstände

Aufgrund einer möglichen Antikörperbildung gegen Botulinumtoxin Typ A, die eine Therapieresistenz nach sich ziehen würde, sollen Behandlungsabstände von drei Monaten nicht unterschritten werden.

 

Adjuvante Therapieverfahren

Das wirksamste adjuvante Verfahren ist eine gezielte Physiotherapie mit Dehnung der behandelten Muskeln.

Durch Provokation des spastischen Musters direkt nach der Injektion kann wahrscheinlich die Aufnahme des Toxins verbessert werden. Eine andere Möglichkeit der Muskelaktivierung, die repetitive Elektrostimulation der injizierten Muskulatur nach Injektion, zeigte in 2 Studien eine stärkere Toxinwirkung im Vergleich zur Kontrollgruppe.

Zusätzlich kann durch Schienen, serielle Gipse und andere Vorrichtungen (Abduktionskeile etc.) ein längerfristiges Dehnung erreicht werden. Bisher nicht geklärt ist der optimale Zeitraum für diese adjuvanten Maßnahmen.

Die hier genannten Punkte lassen sich zu folgenden 8 Thesen zusammenfassen:

Botulinumtoxin A in der Behandlung der Spastik

1) Der Einsatz von Botulinumtoxin A kann sinnvoll sein zur Behandlung von Patienten mit einer Spastik mit fokalen und funktionellen Problemen (Z.B. an oberen und / oder unteren Extremitäten).

2) Zur Behandlung der fokalen Spastik ist der primäre Einsatz von Botulinumtoxin A vor einer systemischen Therapie zu empfehlen.

3) Bei einer sich entwickelnden Spastik kann Botulinumtoxin A präventiv zur Vermeidung von Sekundärschäden eingesetzt werden.

4) Die Behandlung der Spastik mit Botulinumtoxin A muss in ein multimodales Therapieprogramm eingebettet sein.

Wesentliche Bestandteile des Therapieprogramms sind z.B. Physiotherapie, Ergotherapie und Orthesen.

5) Der Einsatz von Botulinumtoxin A bei der Spastik sollte durch in der Anwendung erfahrene Ärzte erfolgen.

6) In der Wertung des gesamten Krankheitsverlaufes senkt die Behandlung mit Botulinumtoxin A die direkten und indirekten Kosten.

7) Die Erstattung der Kosten von Botulinumtoxin A sollte in allen Versorgungsbereichen gesondert erfolgen.

8) Die Behandlung erfordert qualitätssichernde Maßnahmen wie Definition der Behandlungsziele und adäquate Dokumentation der Therapie und des Verlaufs.

 

Tabellen

Tabelle 1: Voraussetzungen für eine Botulinumtoxinbehandlung

  • Fokales spastisches Syndrom
  • Weitgehend dynamische Kontraktur
  • Therapieresistenz (Physiotherapie, Antispastika)
  • Multidisziplinäre Evaluation
  • Ausreichende Aufklärung des Patienten

 

Tabelle 2: Therapieziele

  • Funktionsverbesserung
    – Mobilität (Gehfähigkeit, Verbesserung des Gangbildes)  
    – Transfers  
    – Verbesserung der Sitzposition  
    – Rollstuhlmanagement  
    – Greiffunktion der Hand
    – Loslassen von Gegenständen
  • Erleichterung bei Pflege und Hygiene
    – Anziehen  
    – Hygiene und Waschen, Inkontinenz-Management  
    – Nahrungsaufnahme
  • Verbesserung der Lebensqualität
    – Schmerzreduktion  
    – Besserung von Schlafstörungen  
    – Reduktion der Stigmatisierung durch spastische Bewegungsmuster  
    – Vermeidung muskuloskeletaler Komplikationen 
    – Prävention von Spasmen, Subluxation, Dekubitalulcera
    – Verzögerung und Vermeidung von Kontrakturen
    – Bessere Therapierbarkeit / Erleichterung von Schienenanpassung

 

Tabelle 3: Voraussetzungen des Botulinumtoxinanwenders

  • Grundkenntnisse über die Pharmakologie von Botulinumtoxin
  • Fundiertes Wissen über Wirkung, Nebenwirkungen und Umgang mit Botulinumtoxin
  • Neurologische Grundkenntnisse über Spastik verursachende Grundkrankheit.
  • Fundiertes Wissen über Dosierungsrichtlinien einzelner Muskeln und Maximaldosen
  • Anatomische Grundkenntnisse (Ansätze und Funktionen der behandelbaren Muskeln)
  • Elektromyographische Grundkenntnisse

 

Tabelle 4: Dosierungen

Allgemeine Aspekte:

  1. Maximal 50u BOTOX® / 200u Dysport® pro Injektionspunkt
  2. Maximal 500u BOTOX / 2000u Dysport® Gesamtdosis pro Sitzung
  3. EMG-kontrollierte bzw. stimulationsgesteuerte Injektion notwendig bei Unterarm- und Handmuskeln sowie beim M. tibialis posterior
  4. Reinjektionsintervall mindestens 10 Wochen

 

Achtung: Der Relation BOTOX® zu Dysport® in den unten stehenden Dosisbereichen liegt kein fixes Umrechnungsverhältnis zugrunde!

Innenrotierter und adduzierter Oberarm (cave Subluxation)
M. pectoralis 50 - 150u BOTOX® 200 - 500u Dysport®
M. teres major 30 - 75u BOTOX® 150 - 300u Dysport®
M. subscapularis 30 - 75u BOTOX® 150 - 300u Dysport®

Spastische Ellbogenflektion
M. biceps brachii 50 - 150u BOTOX® 200 - 600u Dysport®
M. brachioradialis 30 - 75u BOTOX® 150 - 350u Dysport®
M. brachialis 30 - 75u BOTOX® 150 - 350u Dysport®

Spastische Handgelenks- und Fingerflektion
M. flexor carpi radialis 20 - 75u BOTOX® 100 - 300u Dysport®
M. flexor carpi ulnaris 20 - 75u BOTOX® 100 - 300u Dysport®
M. flexor digitorum superf. + prof. 20 - 50u BOTOX® 100 - 250u Dysport®
M. flexor pollicis longus 20 - 50u BOTOX® 100 - 250u Dysport®

Pronation des Unterarms)
M. pronator teres 30 - 75u BOTOX® 150 - 300u Dysport®
M. pronator quadratus 20 - 50u BOTOX® 100 - 200u Dysport®

„Thumb-in-palm“ Fehlhaltung
M. flexor pollicis longus 20 - 50u BOTOX® 100 - 250u Dysport®
M. adductor pollicis 20 - 30u BOTOX® 100 - 200u Dysport®
M. opponens pollicis 20 - 30u BOTOX® 100 - 200u Dysport®

Adduktorenspastik
M. adductor longus / brevis / magnus 75 - 300u BOTOX®
Gesamtdosis
250-1000u Dysport®
Gesamtdosis

Hüftbeugespastik
M. iliopsoas 50 - 200u BOTOX® ? u Dysport®
M. rectus femoris 50 - 150u BOTOX® ? u Dysport®

Kniebeuge- / -streckspastik
M. semitendinosus / -membranosus 50 - 150u BOTOX® 200 – 500u Dysport®
M. biceps femoris 50 - 150u BOTOX® 200 – 500u Dysport®
M. quadriceps femoris 50 - 200u BOTOX® ? u Dysport®

Equinovarus
M. gastrocnemius 50 - 200u BOTOX® 200 - 800u Dysport®
M. soleus 50 - 100u BOTOX® 200 - 400u Dysport®
M. tibialis posterior 50 - 150u BOTOX® 200 - 600u Dysport®
M. flexor digitorum longus / brevis 50 - 100u BOTOX® 200 - 400u Dysport®

Striatal toe
M. extensor hallucis longus 30 - 100u BOTOX® 150 - 400u Dysport®

Zehenkrallen (toe flexor spasm)
M. flexor hallucis longus 30 - 100u BOTOX® 150 - 400u Dysport®
M. flexor digitorum longus 30 - 100u BOTOX®  
M. flexor digitorum brevis 10 - 50u BOTOX® 50 - 150u Dysport®

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Tel.: +43 (0)1 890 34 74

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